Meinen ersten Blog-Beitrag möchte ich gerne einer der drei „Jones Day“-Entscheidungen des BVerfG widmen (2 BvR 1405/17 – 2 BvR 1780/17), die in den vergangenen Wochen Gegenstand zahlreicher Beiträge in Fachzeitschriften und auf Diskussionsveranstaltung waren und wohl auch wegen der Omnipräsenz des „Dieselskandals“ in den Medien für viel Aufsehen gesorgt haben. Die Reaktionen der Anwaltswelt auf die Entscheidung reichen von Unverständnis bis Bestürzung und selbst unsere US-amerikanischen Rechtsanwaltskollegen konnten sich mit ihren Kommentaren nur schwer zurückhalten (in etwa: „Christ! What’s going on in Germany?!“)
Worum geht es?
Am 18.09.2015 gab das U.S. Department of Justice (DOJ), also das US-amerikanische Justizministerium, u.a. der Volkswagen Group of America, Inc. bekannt, dass ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen sie wegen des Einbaus sog. Defeat Devices, häufig auch als Abschalteinrichtungen bezeichnet, in bestimmte Dieselfahrzeuge des Volkswagen-Konzerns ab dem Modelljahr 2009 und wegen der in diesem Zusammenhang gestellten Anträge auf Erteilung von Konformitätsbescheinigungen und abgegebenen Erklärungen eingeleitet worden sei.
Noch im September 2015 beauftragte Volkswagen daraufhin die international tätige Rechtsanwaltskanzlei Jones Day mit der „Beratung zu bestimmten Fragen im Zusammenhang mit den bei Dieselmotoren bekannt gewordenen Unregelmäßigkeiten“, der Aufklärung des den Unregelmäßigkeiten zugrunde liegenden Sachverhalts sowie der Vertretung gegenüber den US-amerikanischen Justizbehörden. Jones Day führte in der Folge eine konzernweite interne Untersuchung durch, die sich auch auf die Sphäre der Audi AG bezog. Ihre Rechtsanwälte, darunter auch Anwälte aus dem Münchener Kanzleibüro, sichteten zahlreiche Unterlagen und Daten und führten eine Vielzahl von Interviews mit Mitarbeitern des Volkswagen-Konzerns.
Die Audi AG gestattete die Ermittlungen in ihrer Sphäre, erteilte der Kanzlei Jones Day jedoch selbst kein Mandat.
Am 11. Januar 2017 einigten sich die Beschwerdeführerin und das DOJ im Rahmen eines sogenannten Plea Agreement auf die Zahlung eines Strafgeldes in Höhe von 2,8 Milliarden Dollar. Die Beschwerdeführerin bekannte sich in einem der Verständigung beigefügten Statement of Facts schuldig, dass „VW“ Dieselfahrzeuge mit unzulässigen Abgaskontrollvorrichtungen in den USA verkauft habe. Betroffen waren Fahrzeuge der Marken Volkswagen und Audi mit 2,0 Liter-Dieselmotoren der Beschwerdeführerin und mit 3,0 Liter-Dieselmotoren, die die Audi AG entwickelt und hergestellt hatte. „VW“ habe die US-Aufsichtsbehörden und die Kunden in den Vereinigten Staaten darüber getäuscht, dass die Fahrzeuge den US-Abgasnormen entsprochen hätten.
In Deutschland sind insbesondere die Staatsanwaltschaften Braunschweig und München II mit den Sachverhalten um die 2,0 Liter- und 3,0 Liter-Dieselmotoren befasst.
Auf Antrag der Staatsanwaltschaft München II ordnete das Amtsgericht München mit Beschluss vom 6. März 2017 auf der Grundlage von § 103 StPO die Durchsuchung der Münchener Geschäftsräume der Kanzlei Jones Day an. Sie sollte der Auffindung von Dokumenten dienen, die von der Kanzlei im Zuge ihrer Internal Investigations in Bezug auf den „relevanten Sachverhalt“ zusammengetragen oder erstellt worden waren. VW und Jones Day wehrten sich gegen die Durchsuchung der Kanzleiräume von Jones Day, sodass der Fall, nachdem das Landgericht München I die Beschwerden von Volkswagen und Jones Day als unbegründet verworfen hatten, beim BVerfG landete.
Über welche rechtlichen Fragen hat das BVerfG entschieden?
Das BVerfG setzte sich in der hier besprochenen Entscheidung insbesondere mit der Beschlagnahmefähigkeit von Unterlagen aus internen Untersuchungen auseinander. In diesem Zusammenhang hat sich das BVerfG zum Verhältnis zwischen § 160a StPO und § 97 StPO und der Frage geäußert, wann einem Unternehmen in einem Ermittlungsverfahren eine beschuldigtenähnliche Stellung zukommt.
Wie hat das BVerfG entschieden?
Bevor auf die Ausführungen des BVerfG eingegangen wird, ist zu unterstreichen, dass das BVerfG mit seinen Entscheidungen keineswegs eine verbindliche Marschroute für die einfachen Gerichte und die Staatsanwaltschaft vorgegeben hat. Vielmehr bewegte sich das BVerfG im Rahmen seines Prüfungsauftrags und beantwortete somit allein die Frage, ob sich die vom Landgericht München I gewählte Auslegung noch im Rahmen des verfassungsrechtlich Vertretbaren hielt oder ob bereits ein Verstoß gegen spezifisches Verfassungsrecht vorlag. Obwohl daher auch weniger strengere Auslegungsansätze gut vertretbar sind, dürfte die Entscheidung des BVerfG jedenfalls die staatsanwaltschaftliche Auslegung in der Praxis prägen.
In seiner Entscheidung stellte das BVerfG zunächst klar, dass zwar ein Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung vorliege, dieser aber gerechtfertigt sei.
Ein Verstoß gegen spezifisches Verfassungsrecht liege nicht vor. Insbesondere liege kein Verstoß gegen spezifisches Verfassungsrecht vor, wenn Fachgerichte § 160a I 1 StPO im Bereich der Beschlagnahme aufgrund der Spezialregelung des § 97 StPO für nicht anwendbar hielten.
Maßgeblich ist für den Bereich der Beschlagnahme somit § 97 StPO. Hier stellte sich die Frage, ob sich der besondere Beschlagnahmeschutz aus § 97 I Nr. 3 StPO entgegen seinem Wortlaut nur auf das Verhältnis zwischen Berufsgeheimnisträger und Beschuldigten bezieht.
Das BVerfG entschied, dass es mit der Verfassung vereinbar sei, wenn § 97 StPO in dem Sinne ausgelegt werde, dass § 97 I Nr. 3 StPO nur das Vertrauensverhältnis zwischen dem Zeugnisverweigerungsberechtigten und dem im konkreten Strafverfahren Beschuldigten betreffe. Der Wortlaut der Vorschrift erwähne zwar den „Beschuldigten“ anders als in § 97 I 1 Nr. 1 und 2 StPO nicht. Nach dem Regelungszusammenhang von § 97 I Nr. 1, 2 und 3 StPO müsse jedoch auch § 97 I Nr. 3 StPO einen Bezug zum Vertrauensverhältnis zwischen dem Zeugnisverweigerungsberechtigten und dem im konkreten Verfahren Beschuldigten voraussetzen. Andernfalls würde § 97 I Nr. 3 StPO den Regelungsgehalt von § 97 I Nr. 1 und 2 StPO letztlich vollständig absorbieren und beide Vorschriften obsolet machen. Eine erweiternde Auslegung von § 97 I Nr. 3 StPO sei nicht geboten. Dem Interesse jedes Mandanten am Schutz der seinem Rechtsanwalt oder einem anderen Berufsgeheimnisträger anvertrauten Informationen stehe das verfassungsrechtliche Gebot einer effektiven Strafverfolgung und das öffentliche Interesse an vollständiger Wahrheitsermittlung im Strafverfahren gegenüber.
Es ist somit vertretbar, § 97 I Nr. 3 StPO in dem Sinne auszulegen, dass auch diese Vorschrift sich nur auf das Verhältnis Berufsgeheimnisträger/Beschuldiger bezieht.
Etwas befremdlich muten die Ausführungen des BVerfG an, soweit es auf eine anderslautende Auslegung von § 97 I Nr. 3 StPO eingeht, die vertritt, dass ein Berufsgeheimnisträger-Beschuldigten-Verhältnis generell nicht vorausgesetzt werde. Eine solche Auslegung würde nach Auffassung des BVerfG mit einem „hohen Missbrauchpotential“ einhergehen. Beweismittel könnten gezielt in die Sphäre des Rechtsanwalts verlagert oder nur selektiv herausgegeben werden; auch der gutgläubige Rechtsanwalt könnte als „Safehouse“ für Spuren noch nicht entdeckter Straftaten genutzt werden. Eine Beschuldigtenstellung des Mandanten sei deshalb i.E. erforderlich.
Diese – m.E. gut vertretbare Auslegung – ist damit nicht verfassungswidrig und kann weiterhin ruhigen Gewissens von den einfachen Gerichten vertreten werden. Aufgrund der Ausführungen des BVerfG hat sich dieser Auslegungsansatz in der Praxis aber wohl faktisch erledigt.
Konkret im Hinblick auf VW entschied das BVerfG sodann, dass sich VW mangels beschuldigtenähnlicher Stellung nicht auf den Beschlagnahmeschutz des § 97 I Nr. 3 StPO berufen könne. Auch im Hinblick auf die Frage, wann eine beschuldigtenähnliche Stellung angenommen werden könne, habe das Landgericht München I einen (verfassungsrechtlich) nicht zu beanstandenen Maßstab gewählt.
Das Landgericht München Imacht den Beschlagnahmeschutz juristischer Personen gemäß § 97 I StPO zwar nicht davon abhängig, dass das Unternehmen bereits die förmliche Verfahrensstellung eines Beteiligungsinteressenten innehat, setzt dafür aber voraussetzt, dass eine künftige Nebenbeteiligung nach objektiven Gesichtspunkten in Betracht kommt. Für eine beschuldigtenähnliche Stellung wegen einer Nebenbeteiligung im Hinblick auf eine Verbandsgeldbuße nach § 30 OWiG fordert das Landgericht München I zwar nicht, dass bereits ein Straf- oder Bußgeldverfahren gegen eine Leitungsperson des Unternehmens im Sinne von § 30 Abs. 1 OWiG eingeleitet wurde, es setzt aber einen „hinreichenden“ Verdacht für eine durch eine konkrete Leitungsperson begangene Straftat oder Aufsichtspflichtverletzung im Sinne von § 130 OWiG voraus. Allein die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes einer Leitungsperson soll dagegen nicht genügen. In einem solchen Fall soll keine „hinreichende Sicherheit“ beziehungsweise „ausreichende Gewissheit“ für eine künftige Nebenbeteiligung der juristischen Person bestehen.
Von Verfassungs wegen sei es dagegen nicht geboten, eine beschuldigtenähnliche Stellung, die einen Beschlagnahmeschutz aus § 97 Abs. 1 StPO nach sich zieht, bereits dann anzunehmen, wenn ein Unternehmen ein künftiges gegen sich gerichtetes Ermittlungsverfahren lediglich befürchtet und sich vor diesem Hintergrund anwaltlich beraten lässt oder eine unternehmensinterne Untersuchung in Auftrag gibt.
Die Fachgerichte müssten VW schließlich auch nicht deshalb als Beschuldigte behandeln, weil sie in dem Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Braunschweig förmlich als Nebenbeteiligte wegen eines Ordnungswidrigkeitenvorwurfs geführt werde und deshalb nach allen vertretenen Ansichten dort eine beschuldigtenähnliche Verfahrensstellung einnehme. Von Verfassungs wegen sei es nicht geboten, Tochtergesellschaften insoweit in den Schutz eines zwischen der Muttergesellschaft und einem Rechtsanwalt geschlossenen Mandatsverhältnisses einzubeziehen und der Muttergesellschaft die Berufung auf ein Beschlagnahmeverbot aufgrund einer beschuldigtenähnlichen Stellung der Tochtergesellschaft zuzubilligen.
VW müsse insbesondere nicht befürchten, dass Erkenntnisse aus den bei der Kanzlei Jones Day sichergestellten Unterlagen und Daten, auf die sich das Zeugnisverweigerungsrecht der Rechtsanwälte der Kanzlei Jones Day erstrecke, im Verfahren der Staatsanwaltschaft Braunschweig gegen sie verwertet werden. Für Unterlagen und Daten, die im Münchener Verfahren bei der Kanzlei Jones Day sichergestellt worden seien und für die im Braunschweiger Verfahren ein Beschlagnahmeverbot gemäß § 97 I StPO bestanden hätte, gelte im Braunschweiger Verfahren das Verwendungsverbot gemäß § 160a I 2 StPO, das im Bereich der Beschlagnahmen und Durchsuchungen nach allgemeiner Ansicht nicht durch § 160a V StPO ausgeschlossen werde. Das Verwendungsverbot des § 160a I 2 StPO untersage den Gebrauch der Erkenntnisse zur Verdachtsbegründung oder als Spurenansatz.
Was folgt aus der Entscheidung?
Den Jones-Day-Entscheidungen lassen sich im Hinblick auf die Frage der Beschlagnahmefreiheit von Unterlagen aus internen Untersuchungen keine weitreichenden rechtsverbindlichen Aussagen entnehmen. Dadurch, dass der Prüfungsmaßstab des BVerfG auf die Prüfung der Verletzung spezifischen Verfassungsrechts beschränkt ist, lässt sich nicht einmal sagen, ob das BVerfG die vom Landgericht München I gewählte Auslegung des § 97 I Nr. 3 StPO für vorzugswürdig erachtet. Sie ist jedenfalls nicht verfassungswidrig oder willkürlich.
Das Zeug zum Klassiker hat die Entscheidung dennoch. Denn für die Praxis wird die Entscheidung trotz ihrer fehlenden Rechtsverbindlichkeit erhebliche Auswirkungen haben. Indem das BVerfG den Auslegungsansatz des Landgerichts München I als jedenfalls nicht verfassungswidrig bestätigt hat, hat es zwar keine rechtliche Marschroute vorgegeben. Faktisch werden sich die meisten einfachen Gerichte und Staatsanwaltschaften aber nunmehr an den Auslegungsansatz des LG München halten.
Im Hinblick auf die Ausführungen des BVerfG zu der Gefahr, Rechtsanwälte könnten, wollte man auf die Beschuldigtenstellung verzichten, ihren Mandanten bei der Verdunkelung des Sachverhalts behilflich sein, fällt einem als Rechtsanwalt nicht mehr viel ein. Es ist – milde gesagt – irritierend, wenn das BVerfG die gesamte Anwaltschaft unter den Generalverdacht der Strafvereitelung stellt. Dass solche Ausführungen ausgerechnet vom BVerfG kommen, tut einfach weh. Vielleicht kann der frisch gebackene Richter am BVerfG Stephan Harbarth, seinerseits bisher Rechtsanwalt in Mannheim, seinen (baldigen) Kollegen beim BVerfG etwas mehr Verständnis für den Anwaltsberuf abringen. Es wäre sehr zu wünschen!
Sofern man der Entscheidung etwas Positives abgewinnen will, ist es wohl, dass sie dem Gesetzgeber glasklar den bestehenden Handlungsbedarf im Bereich interner Untersuchungen vor Augen führen. Der Gesetzgeber hat den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden und arbeitet emsig an einem Gesetz zur Regelung von internen Untersuchungen. Offen ist, ob sich der Gesetzgeber am Ende dafür entscheidet, ein eigenes Gesetz der internen Untersuchung zu schaffen oder ob das Recht der internen Untersuchung im geplanten Gesetz zum Verbandssanktionsrecht integriert wird. Das BMJV tendiert gegenwärtig wohl dazu, zwei separate Gesetze für interne Untersuchungen und Verbandssanktionsrecht zu schaffen. Der Vorteil einer gesetzlichen Trennung ist sicherlich, dass man, sollte das Gesetz zum Verbandssanktionsrecht (einmal mehr) scheitern, zumindest im Hinblick auf interne Untersuchungen endlich etwas Rechtssicherheit erlangen wird.